Der kleine Rabe Rabenschwarz

Den kleinen Raben Rabenschwarz hatte es hart erwischt. Sein Köpfchen hing traurig nach unten, seine Federn waren von seinen Tränen durchnässt, er kauerte zitternd auf dem Boden und war tieftraurig. Heute ging aber auch alles schief. Selbst die Freude am Fressen, seiner normalen Lieblingsbeschäftigung, war ihm vergangen. Gerade, als er sich ganz seinem Unglück hingeben wollte, kam freudig hüpfend die Henne Purzelchen Farbenfroh herangetänzelt. Fröhlich trällernd sang sie aus voller Kehle ein altes Liebeslied, als sie auf das Häuflein Elend, den Raben Rabenschwarz stieß.

„Hallo“, trällerte sie, noch ganz gefangen von ihrem Gesang, „was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus wie ein Unglücksrabe.“ „Krch, Krch“, krächzte der kleine Rabe. „Dir scheint es wirklich nicht gut zu gehen“, pfiff die Henne, „was machen wir denn da? Komm, lass uns einen Walzer tanzen. Singen und Tanzen machen glücklich, wie du sicher weißt.“ Doch den kleinen Raben Rabenschwarz war weder nach Singen noch nach Tanzen zumute. Aber die Henne gab nicht auf.

„Steh endlich auf, Rabenschwarz“, sagte sie streng. „So groß kann kein Unglück sein, das man nicht mehr tanzen will.“ Und schon hüpfte sie von einem Fuß auf den anderen und wedelte dabei mit ihren Federn. Sie stupste den Raben an, der gerade aufstehen wollte und sofort wieder zu Boden fiel.

„Krch, Krch“, krächzte er wieder.

Die Henne Purzelchen Farbenfroh war verwirrt. Anscheinend hatte sich der Rabe verletzt und konnte nicht aufstehen. Sie ging näher an ihn heran, holte ihre Brille aus dem Gefieder, denn sie war weitsichtig und untersuchte ihn vom Kopf bis zu den Zehen, aber sie konnte nichts Auffälliges entdecken. Was war nur mit dem kleinen Raben los? War er verhext worden?

„Willst du mir nicht erzählen, was geschehen ist, damit ich dir helfen kann?“, fragte die Henne Farbenfroh. „Krch, Krch“, krächzte er.

„Hast du etwa auch deine Sprache verloren?“ Das wäre wirklich schlimm, dachte sie erschüttert. Und dabei hackte sie ihm auf den Kopf. Als hätte das seine Zunge gelöst, drehte er sich um seine eigene Achse und krächzte: „Sie haben auf mich geschossen. Da oben vom Baum herunter. Diese Mistkerle. Ich pickte gerade ein paar Körner vom Boden und war ganz damit beschäftigt, als auf einmal ein riesiger Apfel auf meinem Kopf landete. Mir wurde schwindlig und ich sank zu Boden. Ich bin nun traurig und wütend zugleich. Nachdem sie den Apfel auf meinen Kopf geworfen haben, sind sie vom Baum geklettert und weggelaufen.“

„Wer?“ fragte die Henne mitfühlend. „Zwei Menschen“, erwiderte der Rabe. „Bist du sicher, dass sie es absichtlich getan haben und nicht der Apfel vom Baum gefallen ist?“ fragte Hennchen Farbenfroh. „Ganz sicher“, erwiderte der Rabe. „Sie kicherten noch, bevor sie davonliefen.“

„Das ist ungeheuerlich“, sagte die Henne erbost. „Wir müssen sie bestrafen. Sie werden sicher noch einmal auftauchen, um nach dir zu sehen. Dann werde ich auf ihren Kopf fliegen und … das muss ich mir noch überlegen, was ich dann mache“, sagte sie mit einem Lächeln.

„Das würdest du wirklich tun?“ fragte der kleine Rabe, der schon viel bessere Laune hatte, obwohl er gar nicht wusste, welche Strafe sich die kleine Henne ausgedacht hatte.

„Na klar“, sagte die Henne. „Wir beide müssen zusammenhalten. So wahr ich hier singe und tanze.“ „Versprichst du mir das?“, fragte der kleine Rabe zweifelnd.

„Hoch und heilig“, erwiderte sie und sah ihn dabei triumphierend an.

„Und nun komm. Hier in der Nähe gibt es einen großen Park mit vielen Körnern. Du musst dich nun stärken und wieder zu Kräften kommen. Während du frisst, passe ich auf dich auf.“ „Danke“, flüsterte der kleine Rabe gerührt. „Das ist wirklich ganz unverschämt freundlich von dir.“

„Ich bin doch deine Freundin“, sagte die Henne Purzelchen Farbenfroh. „Und Freunde halten zusammen, oder etwa nicht? Ich bin sicher, du würdest das gleiche für mich tun.“ Der Rabe Rabenschwarz nickte heftig.

Und so machten sich die beiden zusammen auf den Weg zum Park. Der kleine Rabe Rabenschwarz noch etwas wacklig auf den Beinen hinter der fröhlich tanzenden Henne Purzelchen Farbenfroh. Als er sein Mahl beendet hatte, legten sie sich Seite an Seite unter einen Baum zum Schlafen. Die Henne mit offenen Augen, damit sie auf den kleinen Raben aufpassen konnte und der kleine Rabe mit geschlossenen Augen, denn er war sichtlich erschöpft von den Erlebnissen des Tages und fühlte sich bei Purzelchen Farbenfroh geborgen und sicher.

Schon bald fiel er in einen tiefen Schlaf. Er träumte von einem riesengroßen Apfel, der zu den Übeltätern zurückflog, so dass sie nie wieder auf die Idee kamen, einen Raben damit zu bewerfen. Vor lauter Freude trällerte er ein Lied und tanzte zufrieden im Schlaf, natürlich einen Walzer zusammen mit der Henne Purzelchen Farbenfroh.


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Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Bild von Ninel_S auf Pixabay

Musik für den Podcast komponiert und gespielt von Sylwia Patriok

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Die Kurzgeschichte „Der kleine Rabe Rabenschwarz“ kann hier kostenlos als PDF heruntergeladen werden.

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Von Elli Janke

Ich bin die Begründerin von federundpinsel.de. Meine Begeisterung für das Erzählen von Geschichten sowie der freien Malerei möchte ich hier mit euch teilen. Ich liebe es, meiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Wenn ihr mehr Informationen über mich möchtet, findet ihr sie in der „Über mich“ Seite. Wenn euch meine Bilder und Texte gefallen, dann freue ich mich über eure Unterstützung und Empfehlung. Wie ihr mich unterstützen könnt? Ihr findet diverse Möglichkeiten im Blog unter „Unterstützen“. Die hier veröffentliche Lyrik und Prosa ist kostenfrei für euch. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen, Hören und Schauen.

2 Kommentare

  1. Liebe Elli, soeben habe ich mich an deiner wunderschönen Geschichte erfreut. Mit dieser Geschichte kannst du wunderbar Kinder erfreuen, aber ebenso ist sie auch für Erwachsene lesenswert! Kernaussage ist, dass in zwischenmenschlichen Beziehungen Empathie sehr wichtig ist. Nur wer empathisch ist erkennt, was dem Anderen fehlt. Empathie ist der Schlüssel für funktionierende zwischenmenschliche Beziehungen, aus denen sich dann auch Freundschaften entwickeln können. Indem der Andere bei seinen Problemen Zuwendung erfährt, wird er von seinem eigentlichen Problem abgelenkt und spürt, dass er damit nicht allein gelassen wird und das erzeugt eine gewisse Sicherheit. Das Problem ist zwar nach wie vor vorhanden, aber durch Verständnis und Zuwendung wandelt sich der Pessimist hin zum Optimisten, indem er erkennt, dass es Lösungsansätze gibt, die man verfolgen kann. Das wiederum erzeugt eine gewisse Sicherheit und das Leben wird leichter.
    Ich freue mich schon auf deine nächste Geschichte! Weiter so!

  2. Liebe Elli,

    heute habe ich mich in der kleinen Pause mit Deiner Kurzgeschichte “ Der kleine Rabe Rabenschwarz“ und der Henne „Purzelchen Farbenfroh“ vergnügt!
    Es hat mich sehr gefreut, dass meine Empörung über die Menschen (wie sie halt so sind!) mit der lustigen neu beginnenden Freundschaft von den beiden gelindert wurde.

    Und die Moral von der Geschichte:
    „Wenn zwei dich mit einem Apfel bewerfen, dann rettet dich die Henne!“

    Vielen Dank für die erfrischende Geschichte

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