Antonia liebte die Langsamkeit. Wenn sie einen Klassenausflug unternommen hatten, war sie immer das Schlusslicht und alle anderen mussten auf sie warten. Doch irgendwann hatte sie gar nicht mehr versucht, sich dem Rhythmus der andern anzupassen, zu groß war das Vergnügen, einfach stehen zu bleiben, wenn sie etwas Interessantes sah oder sich dem Genuss der Weltentdeckung von einer Bank aus hinzugeben.
Sie hatte sich längst an die schrägen Blicke der anderen gewöhnt, die manchmal anfingen zu tuscheln, wenn sie sich ihnen näherte und auf der gleichen Höhe wie sie weiter ging. Es war für sie selbstverständlich geworden, die Langsamste zu sein. Anfangs war sie verunsichert und traurig darüber gewesen, aber allmählich bemerkte sie, wie viel mehr sie von der Welt sah, wenn sie sie langsam entdeckte.
Wenn ihr vom Laufen die Füße weh taten, setzte sie sich hin und ruhte sich aus. Gern fuhr sie an den Wochenenden auch mit dem Fahrrad ganz gemächlich übers Land. Entscheidend war für sie nicht die gefahrene Kilometeranzahl pro Tag.
Doch leider wurde die Welt um sie herum immer schneller und unübersichtlicher. Die Menschen hetzten an ihr vorüber, sie sahen sich nicht mehr an, sondern starrten nur noch auf ihr Mobiltelefon und am liebsten hätte sie laut geschrien: „Was macht ihr da bloß? Haltet inne.“ Doch wer würde schon auf sie hören. Sie musste sich damit abfinden. Sie war mit ihrer Langsamkeit eine Außenseiterin.
Als sie eines Tages müde nach Hause kam und sich erst einmal ausruhen wollte, blieb ihr Blick auf eine Anzeige in der Zeitung hängen, die auf dem Küchentisch lag. „Willkommen im Club der Langsamen“, las sie. Diese Schlagzeile machte sie neugierig. Ein Club der Langsamen war genau das Richtige für sie. Neugierig las sie weiter. „Bist du auch ein Kind der Langsamkeit?“ Ja, das war sie gewiss.
„Dann laden wir dich herzlich in unseren Club ein. Wir, die Langsamen, wollen uns zusammenschliessen und suchen genau dich.“ Antonia war happy. Es gab also außer ihr noch andere Langsame. Obwohl sie auch gern allein unterwegs war, würde sie den Club einmal genauer in Augenschein nehmen. Sie zog die Zeitung näher zu sich heran und las weiter. „Komm einfach am kommenden Freitag bei uns vorbei. Du findest uns in der Köpkestr. 1. Ab 14 Uhr treffen wir uns. Lass dir Zeit. Wir freuen uns auf dein Kommen.“
Antonia freute sich auch. Als es Freitag war, wuchs ihre Spannung, wer wohl die anderen Langsamen waren. Oder würde sie vielleicht die einzige sein? Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
Als sie in der Köpkestr. eintraf, wurde sie von einer Dame empfangen. Zehn Stühle standen in einem gemütlich hergerichteten Raum im Kreis angeordnet, auf einem davon nahm sie Platz.
Sie sah sich im Raum um. Noch war außer ihr niemand erschienen. Aber die Stühle deuteten darauf hin, dass noch einige Langsame eintrudeln würden. Die Dame, die wohl die Gruppenleiterin des „Clubs der Langsamen“ war, fragte sie nach ihrem Namen und lächelte ihr freundlich zu. Antonia erwiderte das Lächeln und wartete gespannt auf die Ankunft der anderen. Allmählich füllte sich der Raum.
Als alle Platz genommen hatten, begrüßte die Dame sie und stellte sich vor. Sie hieß Carina. Sie erzählte, dass sie schon immer zu den Langsamen gehört und sehr darunter gelitten hatte. Sie wurde damit aufgezogen und gehänselt und hatte stets versucht, wie die anderen zu sein. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, so dass sie schießlich erkannte, dass ihr Anderssein nicht zu ändern war und sogar große Vorteile barg. Aufgrund dessen hatte sie diesen Club gegründet und war hoch erfreut, so viele Langsame in den Reihen zu finden. Besonders hob sie den Mut von Antonia hervor, die schon in so jungen Jahren die Größe der Langsamkeit entdeckt hatte. Dies wurde von den anderen Anwesenden ebenfalls honoriert, die in lautes Klatschen ausbrachen.
Noch nie hatte sich Antonia im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit befunden, so dass es ihr peinlich war und sie errötete. Abwechselnd berichtete jeder von seiner Erfahrung im Leben mit der Langsamkeit, die, obwohl jede Geschichte individuell war, auch wieder Gemeinsamkeiten hatten.
Dieser Tag veränderte Antonia`s Leben. Sie traf sich nun regelmäßig in der Gruppe der Langsamen. Sie unternahmen gemeinsame Streifzüge durch die Stadt oder tauschten sich über ihre Erfahrungen aus. Antonia erlebte zum ersten Mal, dass sie ernst genommen wurde und ihre Langsamkeit sogar eine besondere Gabe war, die die anderen nicht mehr beherrschten. Sie ließen sich von der Schnelllebigkeit der Zeit mitreißen und sahen es als ihr Ziel an, immer schneller zu werden.
Antonia jedoch war nun sogar stolz auf ihre Langsamkeit. Sie nahm sich vor, anderen zu zeigen, wie viel mehr Lebensqualität die Langsamkeit bot und wie wichtig es sein könnte, sie wieder neu zu entdecken. Doch noch musste sie auf den richtigen Zeitpunkt warten. An Langsamkeit gewöhnt, machte es ihr nichts aus. Sie hatte alle Zeit der Welt.

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Die Kurzgeschichte Willkommen im „Club der Langsamen“ kann hier kostenlos als PDF heruntergeladen werden.
Ich denke , der Club der Langsamen täte uns allen gut, er würde unseren Alltag entschleunigen und den Blickvauf das wirklich Wesentliche fokussieren!